Die Straßenbahn im belagerten Leningrad
In unserer Online-Bibliothek haben wir Alla Sokolowskajas Erzählung „Ich möchte mich per Du mit der Straßenbahn unterhalten“ veröffentlicht, in der die Geschichte dieses für Leningrad besonders typischen Verkehrsmittels während der Blockade ausführlich beschrieben ist.
Und in der Tat spielte dieses öffentliche Verkehrsmittel vor dem Krieg in der Stadt eine äußerst wichtige Rolle. Das Straßenbahnnetz verband alle Stadtbezirke untereinander und war so angelegt, dass die Fahrgäste ohne oder mit nur wenigen Umstiegen an ihr Ziel gelangen konnten. Anfang 1941 sollten einige neue Linien gebaut werden, doch diese Pläne wurden durch den Krieg zunichtegemacht.
Ein großer Teil der Mitarbeiter der Straßenbahn- und Oberleitungsbusverwaltung wurde zur Armee einberufen. Ihre Stellen wurden von Frauen und Kindern übernommen, die nicht über die entsprechenden Qualifikationen verfügten und ihre Kenntnisse vor Ort erhielten. Die Straßenbahn war nun das Verkehrsmittel, mit dessen Hilfe Verwundete transportiert werden konnten: Es wurden spezielle Sanitätswaggons eingerichtet, wo die Verletzten erste Hilfe erhalten konnten. Mit Güterstraßenbahnen transportierte man Ausrüstung, Treibstoff, Rohmaterialien und Lebensmittel. Im belagerten Leningrad war die Straßenbahn das einzige städtische Verkehrsmittel.
Doch Ende November 1941 verschlechterte sich die Situation. Aufgrund der Kälte und der Probleme mit der Stromversorgung wurden die Verbindungen eingeschränkt. Im Winter stellten die Straßenbahnen ihren Betrieb vollständig ein. Zeitzeugen erinnerten sich an „traurige Schlangen“ aus vereisten, leeren Straßenbahnen mit herausgeschlagenen Scheiben. Die Menschen waren gezwungen, ihre Wege durch die Stadt zu Fuß zurückzulegen, was für die entkräfteten Bürger einer Heldentat gleichkam. In O.F. Bergholz` „Tagessternen“ kann man die Geschichte eines solchen „Fußmarsches“ nachlesen. Im „Blockadebuch“ finden sich folgende Zeilen:
Die Stadt gehörte den Fußgängern. Die Entfernungen wurden real. Man maß sie mit der Kraft der eigenen Beine. Nicht wie früher nach der Fahrzeit – sondern nach menschlichen Schritten. Manchmal nach der Anzahl der Schritte.
Die Mitarbeiter der Straßenbahn- und Oberleitungsbusverwaltung wussten, wie sehr die Stadt auf Verkehrsmittel angewiesen war und arbeiteten an der Wiederherstellung des Netzes. Als erste wurden nach der Unterbrechung die Güterstraßenbahnen am 8. März 1942 wieder in Betrieb genommen. Sie waren den Bürgern eine große Hilfe bei den Aufräumarbeiten nach dem furchtbaren ersten Blockadewinter. Ab Mitte April fuhren nach und nach auch die Passagierwagen wieder.
Den 15. April 1942 hatten viele Leningrader als wahren Festtag in Erinnerung: Die Rückkehr der Straßenbahn wurde zum Symbol für die Rückkehr der Hoffnung. Als die Leningrader die Straßenbahn sahen, lachten und weinten sie und gratulierten einander. Es war ein richtiger Feiertag. Fünf Linien gingen wieder in Betrieb, sodass man mit einem Umstieg von einem Stadtteil in einen anderen fahren konnte.Der Name des damaligen Leiters der Straßenbahn- und Oberleitungsbusverwaltung vom Leningrader Stadtexekutivkomitee ging in die Geschichte ein: Michail Chrisanfowitsch Soroka war für die Wiederherstellung des Straßenbahnbetriebs in der Stadt verantwortlich und war zudem an besonders wichtigen Projekten beteiligt, wie etwa der Verlegung eines Kabels auf dem Grund des Ladogasees. Nach Kriegsausbruch ordnete er sogleich an, Waggons für Verwundete einzurichten und Schienen zu den großen städtischen Krankenhäusern zu verlegen. Später wurden auch zu den Industriebetrieben und Fabriken Schienen verlegt.
Über den Betrieb der Straßenbahn während dieser Zeit veröffentlichte Soroka ein Buch mit dem Titel „Die Frontstraßenbahn“. Darin schrieb er von seinem Traum, der Straßenbahn ein städtisches Denkmal zu widmen. Dieses Denkmal wurde im Jahr 2007 durch seine Initiative an der Ausfahrt vom Straßenbahnbetriebshof Nr. 8 auf den Prospekt Statschek eröffnet.
Quellen:
Artikel über die Straßenbahn auf der Website des Ausstellungskomplexes der städtischen Verkehrsbetriebe
Artikel über M. Ch. Soroka auf der Website „Paläste, Gärten und Parks“
Artikel über die Blockadestraßenbahn auf der Website „Leningrad. Der Sieg“

