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Weihnachten und Neujahr im belagerten Leningrad

Weihnachten und Neujahr im belagerten Leningrad

Auch im belagerten Leningrad feierten die Menschen Weihnachten und Neujahr – so gut es eben ging. Im heutigen Artikel haben wir einige Zeitzeugenberichte zusammengestellt.

Über den Jahreswechsel 1941/42 berichtet Jewgenija Studenetskaja, Kaukasistin und Mitarbeitern des Russischen Ethnografischen Museums:

Zu jener Zeit war meine Wohnung schon durch eine Bombe beschädigt worden und ich wohnte mit meiner winzigen Tochter (sie war 22 Tage alt) bei einer Freundin. In dem kleinen, 15 Quadratmeter großen Zimmer lebten sieben Personen, drei davon waren Kinder.
Wir lebten in der Enge, der Kälte, der Dunkelheit – aber nicht in Kränkung.
Sehnlichst warteten wir auf das neue Jahr 1942. Wir wollten es gern festlich begehen.
Es gab ein wenig Wein, der noch vom 7. November übrig geblieben war, drei Stück Konfekt aus „Schokolade“ und etwas Leinöl, um das Brot darin zu rösten. Sogar einige Spielzeuge für den Tannenbaum waren noch da. Nur einen Tannenbaum gab es nicht.
Ich erinnerte mich aber daran, dass in meiner zerstörten Wohnung noch eine ganz erstaunlich gewucherte Fuchsie stand, mit durchflochtenen Zweigen und heruntergefallenen Blättern. Unter Mühen schleppten wir den schweren Blumentopf herbei, schmückten die vertrockneten Zweige mit Spielzeugen, die im Licht der einzigen Kerze funkelten.
An unserem runden Tisch, auf dem die knauserige Blockadebewirtung stand, tranken wir auf den Sieg, die Rückkehr unserer Männer und auf das Glück, im festen Glauben, dass alles gut wird.

J.N. Studenetskaja, „In den Tagen der Blockade“

Der Rentner A. Naumow beschreibt in seinem Tagebuch die Festvorbereitungen am Heiligabend, der nach russisch-orthodoxer Tradition am 6. Januar begangen wird:

6. Januar. Dienstag. Die Nacht war ruhig. Frost. Um 6 Uhr morgens ging ich zur Ver[klärerkathedrale]. Um 1 Uhr mittags traf ich mich mit Tanjuscha beim D.L.T. [russ. „Dom Leningradskoj Torgowli“, dt. „Haus des Leningrader Handels“, großes Kaufhaus im Stadtzentrum; Anmerkung d. Übers.], um Geschenke für die Kinder zu kaufen. Sie brachte mir ein belegtes Brot, denn mir stand ein langer Aufenthalt in der Kirche bevor. Wir gingen durch das D.L.T., es gab überhaupt keine Auswahl an Spielsachen. Wir kauften einige Püppchen (wie vom Flohmarkt) und für Toljka ein Hündchen auf Rädern. Wir gingen in den Gostiny Dwor [Kaufhaus im Stadtzentrum, Anmerkung d. Übers.], doch dort gab es auch nichts. Ich begleitete Tanjuscha zurück und machte mich selbst langsam auf den Rückweg. Um halb neun Uhr abends kehrte ich nach Hause zurück, hungrig und müde. Sie gab mir zu essen, wir stießen mit Cahors an, ich rasierte mich, denn die Friseursalons sind aufgrund des Strommangels alle geschlossen, und wir legten uns schlafen, denn morgen ist Weihnachten und es geht früh in die Kirche.

Aus dem Tagebuch von A. Naumow

Der 35-jährige Ingenieur Nikolaj Alexandrowitsch Filippow erinnert sich in seinem Tagebucheintrag vom 7. Januar 1942 an die Festtage in der Vorkriegszeit:

7. Januar. Mittwoch. Ein klarer Morgen, durch die wenigen Wolken scheint der Mond.
Morgens 10 Grad Frost, abends minus 17 Grad.
Heute ist der erste Weihnachtstag. Das ist das schlimmste Weihnachten meines Lebens, wir haben nichts zu Hause, es gibt nichts zu essen. […]
Ich weiß nicht, was ich tun soll, unwillkürlich überkommt mich der Gedanke, eine Bäckerei zu überfallen, drei Brote zu stehlen und damit die Meute aus zehn Personen zu füttern.
Unten bei Mama steht ein Tannenbaum, sehr schön geschmückt. Wenn du diesen schön geschmückten Baum anschaust, erinnerst du dich unwillkürlich an die gute und satte Zeit.

Aus dem Tagebuch von N.A. Filippow

Alexandra Isaakowna Wojewodskaja, deren Memoiren wir im Rahmen des Projekts übersetzt und  gedruckt haben, erlebte den 1. Januar 1943 im Krankenhaus, wo sie sich von einem Pneumothorax infolge einer Tuberkuloseinfektion erholte:

Während meines zweiten Aufenthalts im Krankenhaus fanden drei bedeutungsvolle Ereignisse statt. Das erste war mein 25. Geburtstag am 10. Dezember. […]
Das zweite Ereignis war das neue Jahr 1943. Ja, wir feierten den Jahreswechsel im Krankenhaus. Über irgendeinen Bekannten erwarben wir Sauerkraut auf dem Markt, holten von irgendwo Bier heran und legten etwas von unserem Abendessen für das Neujahrsfest zurück. Vor Mitternacht „deckten wir den Tisch“. Offensichtlich wurde anlässlich des neuen Jahres der Strom nicht abgeschaltet. Wir feierten den Jahreswechsel im Glauben an eine bessere Zukunft. […]

A.I. Wojewodskaja, „Vier Jahre Leben, vier Jahre Jugend“, S. 208 f.

Mehr Erinnerungen und Tagebücher aus der Blockadezeit findet ihr in unserer Online-Bibliothek.